Pforzheim – OB Hager: Mit dem Notgroschen von Derivaten freikaufen

 

PFORZHEIM. Bei minus 57,622 Millionen Euro stehen derzeit die städtischen Derivate. Bis zu minus 77,5 Millionen Euro könnten die Produkte im schlechtesten Fall bis zum Jahr 2014 noch fallen. Jetzt plant Oberbürgermeister Gert Hager, die städtischen Rücklagen sofort aufzulösen und die Stadt damit aus dem Spekulationsdesaster freizukaufen. Am kommenden Dienstag (27.07.10) soll der Gemeinderat darüber abstimmen.

Die Staatsanwaltschaft Mannheim hat aufgrund der Derivate-Geschäfte der Stadt Pforzheim das Rathaus durchsucht. (Archiv-Video 24.11.09)
Die Spitzen der Gemeinderatsfraktionen wussten, um was es gehen würde, als Hager sie am Mittwoch auf 14 Uhr ins Rathaus bat. Eineinhalb Stunden dauerte die Beratung. Danach war klar: Der Rathaus-Chef hatte die Marschroute seiner Verwaltung in Sachen Derivate vorgestellt – und die Fraktionsvorsitzenden hätten Zustimmung signalisiert, so Pressesprecher Michael Strohmayer, die Derivate schnellst möglich abzulösen. Eile ist vonnöten – denn die Miesen werden immer mehr. Jeden Tag verliert die Stadt rund 20.000 Euro.

Nur ein Aspekt
Die Gemeindeprüfungsanstalt hat die Derivate-Geschäfte der Stadt Pforzheim untersucht, die die Stadt bis zu 77,5 Millionen Euro kosten könnten. Oberbürgermeister Gert Hager hat den Bericht vorgestellt. (Archiv-Video 07.12.09)
Nachdem das Regierungspräsidium der Stadt verboten hatte, einen Kommunal-Kredit aufzunehmen, um umzuschulden und eine zweite Variante zu viel teure Zeit kostet, fand sich nun ein dritter Weg: Was die Stadt noch aus dem Verkauf der Stadtwerke in einem Fonds angelegt hat, wird in das „Glattstreichen“ der Geschäfte mit der Bank J. P. Morgan gesteckt. Also zuerst der Griff zum Notgroschen – und dann das Taxieren und Verkaufen von städtischen Liegenschaften an eine noch zu gründende Immobiliengesellschaft, damit das vorgeschossene Geld wieder aufs Konto kommt. Allerdings müsste das verkaufte Tafelsilber wieder zurückgeleast werden.

Pforzheims Stadtkämmerin Weishaar tritt zurück, und mit 77,5 Millionen droht der Stadt ein größeres Fiasko als zunächst angenommen. PZ-news befragt OB Gert Hager wie er die Situation einschätzt. (Archiv-Video 18.11.09)
Insgesamt sind nun knapp 58 Millionen Euro fällig. Dann ist man wirklich aus dem Schlamassel raus. Alles, was je in der Amtszeit von Hager-Vorgängerin Christel Augenstein und Stadtkämmerin Susanne Weishaar an Derivate-Geschäften mit der Deutschen Bank – zur „Zinsoptimierung“ – und „Spiegelgeschäften“ mit J. P. Morgan abgeschlossen wurde, ist damit erledigt. Doch das ist nur das eine.

Fehlgeschlagene Finanzspekulationen und Millionenschulden. Ist der Ruf der Goldstadt ruiniert? PZ-news hat sich umgehört. (Archiv-Video 08.12.09)
Denn da ist noch die Sache mit dem Schadenersatzanspruch gegen beide Banken. Eine Kanzlei prüft die Chancen einer gerichtlichen Auseinandersetzung. Ein zweites Gutachten wird für Ende Juli erwartet. Die Staatsanwaltschaft Mannheim ermittelt gegen Augenstein und Weishaar wegen Untreue.

Für Hager sei seit langem klar, „dass wir uns so schnell wie möglich von diesen rechtswidrigen Produkten trennen müssen, die uns jeden Monat weitere 600.000 Euro Verschlechterung hinzufügen“. Am Dienstag der kommenden Woche soll der Gemeinderat über diesen Weg eine Entscheidung treffen. Dass J.P. Morgan als Derivate-Partner diese Variante mit trägt, davon sei man nach ersten Gesprächen im Rathaus überzeugt.

Mit der neuesten Variante, der Auflösung der städtischen Rücklagen, will die Stadt „zwei Fliegen mit einer Klappe“ schlagen. Einerseits wäre sie die Produkte, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf den Minus-Wert von 77,5 Millionen Euro zulaufen, los. Zweitens würde die Stadt Zeit gewinnen, um das mit dem Regierungspräsidium vorbesprochene „Sale-and-lease-back-Modell“ in die Wege zu leiten. Soll heißen: Die Stadt verkauft zum Beispiel Schul- und Verwaltungsgebäude und mietet sie dann wieder an.

Um dieses Geschäft durchzuführen, müsste der Beschluss des Gemeinderates über einen Nachtragshaushalt erfolgen. Das Regierungspräsidium müsste den entsprechenden Nachtragshaushalt genehmigen. Darüber hinaus würde die Rathaus-Verwaltung die weiteren Swap-Geschäfte (sogenannte Spiegelgeschäfte) mit J.P. Morgan, die Bezugsgeschäfte mit der Deutschen Bank sowie den mit J.P. Morgan abgeschlossenen Beratungsvertrag kostenneutral auflösen.


Kommentar von Marek Klimanski (PZ):

Schlimm und schlimmer: Stadt will ihre Rücklagen für den Derivate-Ausstieg hergeben

Nun also sieht die Stadt keine Alternative dazu, bereits jetzt ihre letzten Rücklagen herzugeben, die mal bis ins Jahr 2012 reichen sollten. Das alles nur, um die verheerenden Derivate-Geschäfte zu beenden.

Zum Ausgleich dessen, wofür die Rücklagen eigentlich vorgesehen waren, will die Stadt einer Tochtergesellschaft ihre Immobilien verkaufen und zurückmieten. Die Tochter nähme dafür den Kredit auf, der der Stadt für den Derivate-Ausstieg verwehrt blieb.

Wie zynisch: Wenn OB Gert Hager künftig als Mieter im eigenen Rathaus und ohne Rücklagen da steht, dann wäre das aus heutiger Sicht sogar noch die Gutgegangen-Variante. Um als Stadt Pforzheim unter diesen Umständen in näherer Zukunft handlungsfähig zu bleiben, bräuchte es einen Wirtschaftsboom ungeahnten Ausmaßes, sprudelnde Steuereinnahmen und eine Bundesgesetzgebung, die Städte ent- statt belastet. Anders gesagt: Ohne ein bis zwei große Wunder wird es ganz schwer.

Ihre Meinung zum Kommentar schreiben Sie an: marek.klimanski@pz-news.de

Das Pforzheimer Derivate-Debakel – die Chronologie

Im Jahr 2002 sucht die Stadt nach Wegen, die Zinsbelastung für 128 Millionen Euro Schulden zu reduzieren, 2003 schließt sie ein erstes Swap-Geschäft mit der Commerzbank ab, einen klassischen, reinen Zinstausch. Es folgen zwei ähnliche Derivate-Geschäfte. 2004 bietet die Deutsche Bank Spread Ladder Swaps an. Die Stadt schließt erst einen Spread Ladder Swap, dann zwei weitere mit einem Gesamtvolumen von 60 Millionen Euro ab.

Ab September 2005 verschlechterten sich die Marktwerte des Spread Ladder Swap dramatisch. Bei einem Stand von etwa minus 20 Millionen Euro wendet sich die Kämmerin an JP Morgan. Am 23. November 2006 erfolgt der Abschluss der Geschäfte mit JP Morgan. Im Juli 2007 informiert die Verwaltung Gemeinderat und Presse einzig über die Geschäfte mit der Deutschen Bank und eine mögliche Klage nur gegen dieses Kreditinstitut. 28. Februar 2008: Bei den Haushaltsberatungen verteidigen Sprecher von CDU und SPD die Derivate als „bewährte, beherrschbare Instrumente“. Die FDP will den Ausstieg, auch die Grüne Liste äußert Kritik.

1. Oktober 2009: Nach seinem Amtsantritt begutachtet der neue OB Gert Hager die Finanzen und schlägt Alarm: Aus den Derivate-Geschäften drohen bis zu 77,5 Millionen Euro Verlust, aktuell sind es rund 57,7 Millionen Euro. Die Aufarbeitung beginnt, die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Ex-OB Christel Augenstein und Ex-Kämmerin Susanne Weishaar wegen Untreue, Klagen der Stadt gegen Deutsche Bank und JP Morgan werden geprüft. kli

Mit freundlicher Genehmigung der Pforzheimer Zeitung